DAS PERGAMENT
Der Stadtschreiber Hieronymus saß ratlos in der Bibliothek und fühlte sich wie ein alter Mann. Einen Auftrag wie den durch einen Kurier überbrachten hatte er noch nie erhalten. Es verlangten doch sein König und seine Königin von ihm etwas, daß selbst Mönch Anselm, der kluge Mann am Hof, nicht geschafft hatte. Zum Ergötzen und zur Belehrung des jungen Prinzen und der lieblichen Prinzessin sollte eine Geschichte über Vorkommnisse aufgeschrieben werden, die sich zugetragen hatten und die das von ihrem Fürsten so geliebte Volk in Sorge, Unruhe und große Aufregung versetzt hatten. Damit er für die Aufzeichnung der Geschichte die nötige Ruhe hatte, war er im Auftrag des Königs durch einen Hüter des Gesetzes in die große Bibliothek des Palastes gebracht worden, wo er jetzt, einem vergrämten Einsiedler gleich, vor einem schrecklich leeren Pergament saß, eine in Tinte getunkte gut gespitzte Gänsefeder in der Hand - aber nicht eine einzige Idee im Kopf . . .
Ihm graute bei dem Gedanken, ohne eine Niederschrift seinem gütigen König unter die Augen treten zu müssen.
Das Geschehen, das er aufschreiben sollte, schien ja auch wirklich zu eigenartig, um es einfach in Worte zu fassen: Es hatten doch wahrhaftig aufgeregte Reisende berichtet, daß weit vor der Stadt ein riesiger Drache die Felder verwüstete. Daraufhin war Miraco, der stadtbekannte Zauberer und Märchenerzähler mit seinem bunten Wagen vor die Stadt gezogen. Dort hatte er auf freiem Feld den großen Drachen zur Rede gestellt und versucht, ihn zur Abreise zu bewegen.
Der Drache aber fauchte Miraco in allen gängigen Drachensprachen wie Feuer, Schwefel, Krumpeln und Grollen an und machte Miraco recht schnell klar, daß hier mit routiniert vorgetragenen Zaubersprüchen, handelsüblichem Konfetti und ein paar Zündplättchen nichts zu machen war.
Also trieb Miraco seinen Maulesel zur Eile an und alle beide waren recht froh, die heimatlichen Stadtmauern erreicht zu haben. Hinter dem sicheren Stadttor erwartete eine große Menschenmenge die Rückkehr des Zauberers, der sie so oft mit unterhaltsamen Zaubertricks verblüfft und entzückt hatte. Um so erschreckter waren alle Stadtbewohner, als Miraco von der angstvollen Begegnung und der Nutzlosigkeit der Zauberei berichtete.
Da bat Ratio, der Philosoph, ein im ganzen Reich bekannter weiser Mann ums Wort und schlug seinen verängstigten Mitbürgern laut vor, Laetitius, den Hofnarren, herbeizuholen und ihn um Rat zu ersuchen. Laetitius ließ sich nicht lange bitten. Er erfaßte die Situation auch sehr rasch und kleidete sich mit seinem farbenprächtigsten Harlekinkostüm ein. Dann ermunterte er die Ratlosen, ihm vor Stadt zu folgen.
Draußen auf dem Feld stürmte der gewaltige Drache auf die verzagte Menschenmenge zu und vollführte all die Dinge, die Drachen eben so zu tun pflegen um Menschen zu verunsichern. Da trat Laetitius scheinbar unbeeindruckt vor, schwenkte seinen spitzen Hut und schickte dem Riesendrachen ein glockenhelles Lachen hinüber. Dem Untier verging daraufhin das dramatische Schnauben und Nebelwerfen unmittelbar. Die Umstehenden staunten, denn der Riesendrache war vor ihren Augen obendrein sofort auch etwas kleiner geworden.
Als Laetitius nun seine Begleiter animierte, in sein Gelächter einzustimmen, schrumpfte der Drache immer mehr. Ob aber der Drache nun sich heimlich aus dem Staub gemacht hat oder ganz einfach an dem Gelächter erstickt ist, ist nicht näher berichtet worden. Wohl aber, daß eine Regenwolke erschien und die Menge zum Schluß noch durch einen üppigen Regenschauer durchnäßt wurde. Laetitius animierte alle: "Freut euch, wenn’s regnet! Wenn ihr euch nicht freut, regnet es auch!"
Ja, liebe Leser, liebe Zuhörer, was soll ich da noch groß erzählen? Hieronymus wußte zwar immer noch nicht, wie er die Geschichte beginnen und beenden sollte. Er dachte aber ein bißchen über den Verlauf der Geschehnisse nach und versuchte zu entdecken, ob aus dieser Geschichte nicht doch etwas zu lernen sei. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Schmunzelnd blies er die Wangen auf, nahm die Schreibfeder in die Hand, prustete vergnügt los und begann, über das leere Pergament zu lachen ...
(Na? Haben wir uns verstanden?)